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Von Antje Mayer.

Sarajewo, das ideale Biotop?

Kultur, Essen und Ausgehen in Sarajewo

Über die Kunstszene in der „Märtyrerstadt“ Sarajewo oder Warum die Berliner Mauer den Bosniern direkt auf den Kopf gefallen ist. Von Antje Mayer

Bosnien-Herzegowina mit seiner Hauptstadt Sarajewo ist ein Land, von dem man auf dem Balkan sagt, seinen Einwohnern wäre die Berliner Mauer direkt auf den Kopf gefallen. 278.000 Tote und Vermisste und 1,3 Millionen Flüchtlinge hatte das Land im vorigen Jahrzehnt zu beklagen und damit wohl die größten Verluste der letzten Balkankriege. Allein die Einwohner von Sarajewo hatten während der 43 Monate Belagerung (von 1992 bis 1996), unter anderem durch die Schergen des serbischen Generals Radovan Karadzic, nicht nur über 50.000 Verwundete zu verzeichnen, sondern 10.000 der ihren verloren, davon allein 1600 Kinder. Aber in Belgrad und in Karadzics Heimatort Pale, einem Vorort von Sarajewo in der heutigen Republika Srpska, gibt es heute immer noch Poster und T-Shirts mit dem Konterfei des „Kriegsstars“ Karadzic zu kaufen, „Srpski Heroj“ („Serbischer Held“) ist darauf zu lesen. Seelenruhig veröffentlichte der Kriegsverbrecher im Herbst letzten Jahres seine Biografie bei einem Belgrader Verleger und betreibt entspannt eine Website unter www.karadzic.org.
Es ist offensichtlich: Längst noch nicht sind die alten Konflikte, so wie 98 Prozent der Minen im Land, aus dem Weg geräumt. Der Vulkan Balkan brodelt immer noch unter der Oberfläche. „Denkbar schlechte Voraussetzung für das Produzieren von Kunst“, sagen die einen, „ideales Biotop“, behaupten hingegen die anderen.
So wie die Farce um den Kriegsverbrecher Karadzic sinnbildlich für den Aufschub von Geschichtsaufarbeitung auf dem Balkan steht, so steht die bosnische Hauptstadt Sarajewo, die Stadt der Kunst und Festivals, für den Versuch, die mühsame Bewältigung der Geschichte zu unternehmen. Auf einer Anhöhe über der Stadt liegt das Ausflugsrestaurant Park Princeva. Es ist vor allem bei den vielen gut verdienenden Ausländern, die bei den internationalen Organisationen arbeiten, beliebt. Von dort hat man einen wunderbaren Ausblick über die schöne, sich auf die Hügel rundherum malerisch zerstreuende Metropole mit ihren Straßencafés, k. u. k. Prachtbauten, Villen, Olympiastadien der Winterspiele 1984 und kleinen Gässchen der orientalischen Innenstadt mit ihren Minaretten und Märkten. Die zahlreichen vom Straßenkampf zerschossenen Fassaden und verrußten Brandruinen des Krieges sieht man von oben nicht.
„Auf dieser Aussichtsterrasse hatten die serbischen Scharfschützen während der Belagerung eine ideale Stellung“, erinnert sich der Student Ognjen Dizdarevic. Er ist einer der wenigen jungen Menschen und Künstler, die nach ihrer Vertreibung wieder nach Bosnien zurückgekehrt sind und sich für den Aufbau des Landes in vielen Funktionen künstlerisch und politisch engagieren.
„Während des Krieges kamen Männer, aber auch Frauen aus Belgrad und dem Ausland für einen Wochenendtrip in die Hügel über Sarajewo, um sich ein Zubrot mit Morden aus dem Hinterhalt zu verdienen. Oft schossen sie von hier den Bewohnern ins Bein, sodass sie nur verletzt waren“, zeigt Dizdarevic über den hübsch begrünten Hang. „Aber nur, damit ihnen andere zu Hilfe kamen, um dann noch mehr vor der Flinte für den finalen Schuss zu haben. Mehrere Fliegen auf einen Schlag: 100 Dollar, erzählt man, bekamen die Snipers für einen toten Mann, 200 für eine ermordete Frau, 500, wenn sie den kleinen Sohn, der an der Hand seiner Mutter ging, tödlich trafen.“ Man mag diese Geschichte kaum glauben. Die Granatlöcher im Asphalt hat man an manchen Stellen mittlerweile mit rotem Gummi gefüllt, auf dass niemand die Toten vergessen möge. Die schaurigen Flecken nennen die Einwohner „Sarajewos rote Rosen“.
Noch gar nicht so lange vermögen viele über alles das zu reden, wie der bekannte Künstler Neiboj‰a Seric-Soba, der als Soldat in der bosnischen Armee kämpfte, oder Zlatan Filipovic (siehe Interview). Beide fanden in der Kunst ein Ventil. Filipovic kehrte nach Auslandsaufenthalten doch wieder in seine Geburtsstadt Sarajewo zurück, „um etwas aufzubauen“, genauer: die Abteilung für Neue Medien an der Akademie für angewandte Kunst in Sarajewo, die regen Zuspruch findet.
Die vergangenen Jahre arbeitete Filipovic, wie auch der Student Ognjen Dizdarevic, zudem beim Sarajewo-Filmfestival mit. 1995, mitten im Krieg, unter fortwährender Bombardierung der Stadt, fand es erstmals statt. Mittlerweile wird es als ein mindestens so wichtiges Kino-Kultevent wie jenes in Cannes oder Berlin gehandelt, und Mitgründer und Direktor Mujan DÏevad und seine Kollegen werden von der internationalen Filmwelt wie Helden gefeiert.
„Ohne die Kunst wären wir damals verrückt geworden“, ist sich Senka Kurtovic sicher. Sie ist Chefredakteurin der legendären Tageszeitung „Oslobodenje“, die heute nur noch in einer Auflage von 3000 Stück erscheint. Während der Belagerung produzierten sie und ihre Mitarbeiter die Zeitung im Keller des Verlagshauses, wo sie die meiste Zeit schliefen, aßen, eben mehr schlecht als recht (über)lebten. Ihr Motto: Kein Tag ohne neue Ausgabe. „Verteilen konnten wir das Blatt unter diesen Umständen ohnehin nicht. Wir hängten die Seiten an die Wände, damit sie die Leute lesen konnten“, so Kurtovic, deren Team für seine Standhaftigkeit schon zahllose internationale Preise verliehen bekam. „In der Zeit bekam ich ein Paket aus Paris. Neben Nahrungsmitteln hatte der Absender ein Parfum beigelegt. Ich habe mich noch nie in meinem Leben so sehr über ein Geschenk gefreut“, erinnert sich Kurtovic heute mit Tränen in den Augen. „Es war in diesem Horror ein Stück Normalität.“
Eine gesellschaftspolitisch überaus engagierte Institution ist auch das Sarajevo Center for Contemporary Art unter der emsigen Leitung der von den Jungen hoch geschätzten Dunja BlaÏevic. 1996 wurde es gegründet und ist bis heute Treff- und Angelpunkt der Kunstszene in der Stadt. Es befindet sich im Gebäude der Akademie für angewandte Kunst, aber über eine eigene Galerie verfügt es bis dato nicht. Ein ähnliches Problem hat auch das couragierte Kunstprojekt Ars Aevi. „In den Wirren des Balkankrieges gab es wenige Möglichkeiten, pazifistischen Widerstand zu leisten“, erzählt der Mitbegründer Enver HadÏiomerspahic, der vor dem Krieg in unterschiedlichen Künstlergruppen aus der Region aktiv war. „Man konnte emigrieren, sich erschießen lassen oder noch verrückter werden. Also haben am Beginn der Belagerung 1992 Freunde und ich die Ars Aevi, ein Zentrum und Museum für zeitgenössische Kunst, bisher allerdings ohne festen Ort, ins Leben gerufen.“
Man fand schnell Unterstützung für das Vorhaben, besonders in Italien, zeigte etwa eine Wanderausstellung über die Belagerung der Stadt und kooperierte mit internationalen Museen und Zentren für zeitgenössische Kunst. Museen, Künstler und Institutionen spendeten aus Solidarität und im Sinne „humanitärer Hilfe“ bisher weit über 130 Kunstwerke, von Michelangelo Pistoletto bis Franz West, die allerdings bisher immer noch in dunklen Depots gebunkert sind.
Seit längerer Zeit schon ist in Sarajewo nun ein Museum für zeitgenössische Kunst vom italienischen Architekten Renzo Piano geplant, das dieser unter Mithilfe von Kollegen realisieren will. „Meine Hoffnung ist“, so HadÏiomerspahic, „dass durch den Museumsbau und durch unsere bereits große internationale Kunstsammlung Bosnien-Herzegowina endlich nicht mehr nur als Nachkriegsland wahrgenommen wird, sondern näher an Europa rückt.“

KUNST, ESSEN, AUSGEHEN UND AUSSCHLAFEN
Zusammengestellt von Alexander Lass, Antje Mayer, Sejla Kameric und Enes Huseincehajic


Alternative Sight Seeing

Ars Aevi. Interkulturelles Zentrum – Museum für zeitgenössische Kunst

Ars Aevi ist ein Museum ohne Museumsgebäude. Die von Künstlern und Museen aus aller Welt gespendeten Kunstschätze von Michelangelo Pistoletto bis Franz West sind in der Obhut eines jungen Kuratorenteams, das in regelmäßigen Abständen unkonventionelle Ausstellungen in Sarajewo oder in anderen Ländern durchführt. Seit längerem schon plant der italienische Architekt Renzo Piano ein Museum für die Ars Aevi Collection in Sarajewo. Es sind derweil mehrere Pavillons, in mehreren Bauphasen, von verschiedenen Architekten geplant.
Tel.: +387/33/21 69 19, www.arsaevi.ba

Mediacentar

Das Institut mit unfangreichem Medienarchiv wurde 1995 gegründet, um eine unabhängige und professionelle Ausbildung für JournalistInnen zu ermöglichen. Neben Lehrveranstaltungen und Workshops werden auch eine Menge Events, von Filmvorführungen über Performances bis zu Konzerten, angeboten. Eine nette, kleine Café-Bar ist vorhanden. Die umfangreiche Website erscheint auch auf Englisch.
Kolodvorska 3, www.media.ba

Sarajevo Center for Contemporary Art – SCCA und pro.ba
Das Center befindet sich hoch oben unter der Kuppel der Akademie für angewandte Kunst in Sarajewo mitten im Zentrum der Stadt und ist Dreh- und Angelpunkt der Szene für zeitgenössische Kunst. Hier bekommt man alle Informationen über die Künstler des Landes. Leider verfügt das SCCA über keinen eigenen Ausstellungsraum. Geleitet wird es von Dunja Blazevic. Mit dem pro.ba verfügt das SCCA auch über ein eigenes Multimedia-Laboratorium.
Obala Maka Dizdara 3, Tel./Fax: +387/33/66 53 04, scca@scca.ba, www.scca.ba

The National Gallery of BHI

Einer der wenigen größeren Ausstellungsorte der Stadt für moderne und zeitgenössische Kunst mit wechselnden Schauen u. a. von Ars Aevi oder dem SCCA. Hier arbeitet auch die junge Ars-Aevi-Kuratorin Asja Mandic, die für den Pavillon von Bosnien-Herzegowina für die 50. Biennale Venedig 2003 verantwortlich zeichnete.
Zelenih Beretki 8

Obala Meeting Point
Dieser Ort mit einem großen Café mit Straßenlokal befindet sich unweit des SCCA und beherbergt das Kino Obala. Auch zentraler Treff- und Organisationspunkt während des bekannten Sarajevo Film Festival, das heuer vom 19. bis 27. August stattfindet.
Hamdije Kresevljakovica 13, Tel.: +387/33/66 81 86, www.sff.ba

Ewige Flamme
Das immer brennende Feuer nahe dem Stadtzentrum soll an die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs erinnern und an den Frieden gemahnen. Angesichts des vergangenen Krieges ein Monument von doppelter Symbolkraft für die Einwohner von Sarajewo.

Bijela tabija
Die Überreste der Festungsanlage Vratnicki Grad hoch über der Stadt, die mit ihrem Ostturm den Eingang beherrscht. Die oberen Partien von Tabija wurden zur Zeit der österreichisch- ungarischen Monarchie erbaut. Großartiges Panorama.


Essen, ausgehen und ausschlafen


Essen und Trinken


Restaurant Aeroplan
Wer traditionell bosnisch essen möchte, geht ins „Aeroplan“, das schon seit der Türkenzeit in Sarajewo seine Gäste bewirtet. Ein Dorado für Vegetarier: das beste Pita, das ist ein Burek mit Käse, Kartoffeln, Spinat oder Zucchini gefüllt (nach einem alten Familienrezept).
Saraci 6

Inat Kuca
Ein malerisch gelegenes Restaurant direkt am Ufer des Miljacka gegenüber der Ruine der Nationalbibliothek (früher das Rathaus) in einem alten, kleinen, pittoresken, allein stehenden Haus mit hervorragender türkischer Küche. Schöner Ausblick draußen, urgemütlich drinnen. Nicht allzu teuer und vom Zentrum zu Fuß zu erreichen.
Veliki Alifakovac 1, Tel.: +387/33/44 78 67

Cevabdzinica Hodzic

Den besten „Bosna Burger“, Cevapcici, gibt es bei „Cevabdzinica Hodzic“ in der Altstadt. Architektonisch allerdings abgrundtief hässlich; ein großer Teil der Altstadt wurde mit diesem Gebäude verschandelt.
Bravadziluk 34

Vinoteka
Für jeden Weinfreund und Sammler von Weinen ist die „Vinoteka“ allein schon eine Reise nach Sarajewo wert. Der Weinkeller spiegelt alle internationalen Standards einer guten Vinothek wider: Vom burgenländischen Rotwein über argentinischen Shiraz bis zu edlem Grappa ist alles zu finden. Die Speisekarte ist eine gelungene Auswahl der Mittelmeerküche.
Skenderija 12, Tel.: +387/33/21 49 96, www.vinoteka.ba

Art buybook & café Karabit

Wer gerne über bosnische Geschichte und Schriftsteller lesen und daneben in Ruhe Kaffee trinken will, ist im „Art buybook & café Karabit“ bestens aufgehoben.
Zelenih beretki 8, Tel.: +387/33/71 20 10

knjizara & café bar buybook
Nebenan gibt es den viel größeren Buchladen „knjizara & café bar buybook“ mit einem kleinen Stehcafé.
Radiceva 4, Tel.: +387/33/71 64 50, www.buybook.ba

Caffe Tito
Tito ist heute noch ein Volksheld in Bosnien und wird liebevoll „pepe“ genannt. Das „Caffe Tito“ ist mit Erinnerungsstücken voll gehängt, und man spürt den Geist des Marschalls. T-Shirts als Mitbringsel sind unbedingt zu kaufen.
Ulica Bihac´ka 19, Tel.: +387/33/61 92 30 42, www.caffetito.ba


Shopping

Antik Shop
Auch eine kleine Reisekasse kann man in Bosnien mit Stil verjubeln: Auf den Märkten in Bascarsija kann man alles erfeilschen. Ausgefallenere Andenken bekommt man im „Antik Shop“ (vom Poster der Olympiade in Sarajewo 1984 bis zur Jack-Daniel’s-Gürtelschnalle). Auf dem Marktplatz Markale werden z. B. Tomaten so groß wie Grapefruits angeboten und Grapefruits so groß wie Melonen.
Antik Shop, Kovici 2; Markale, Mula Mustafe Baseskije

Slatki Butik
Die „Süße Boutique“ ist ein Muss für den, der kalorienstarke Delikatessen mag. Sie befindet sich in der wunderbaren Fußgängerzone Ferhadija. In dem kleinen Laden finden sich Kaffee, Süßigkeiten, aber auch Alkohol und sogar Waschpulver nebeneinander.
Ferhadija 15, Tel.: +387/33/44 13 47

Friseur/Hairdresser Skaka
Friseur Uzeir Skaka ist Anbieter mehrerer Gewerbe. Er gilt nicht nur als Friseur, sondern als Beschneidungsmeister des wertvollsten Stückes des Mannes. Wer um den Preis von zwei Euro einen Haarschnitt und eine Beschneidung durchführen will, ist bei Skaka gut aufgehoben.
Bravadziluk 1


Ausgehen

Zlatna ribica
Diese kleine Bar ist ein Geheimtipp. Wer das Lokal „Kleiner Goldfisch“ betritt, glaubt, nicht mehr in Bosnien zu sein. Die Wände hängen voller Souvenirs aus verschiedenen Ländern und erzählen die „mali svet“ (die kleine Welt) der vielen Besucher, die hier schon aus und ein gingen. Der „Zlatna ribica“ ist Pflichtprogramm.
Kaptol 6, Tel.: +387/33/25 36 07

FIS und/and Delikatesna radnja
Die beiden Lokale sind die derzeit besten Cafés bzw. Clubs in der Stadt. Ins „Delikatesna radnja“ geht man bei Tag, ins „FIS“ bei Nacht. Gute Musik, gutes Publikum, keine Raufereien ...

The Bar
Ist für die Adabei-Szene Sarajewos und in einem Ministeriumsgebäude im Keller untergebracht. Hier feiern Mafiosi neben Teenagern und Regierungsmitgliedern. Empfehlenswert.
Marsala Tita 7


Ausschlafen

Villa Orient
In der osmanischen Altstadt Sarajewos, der Bascarsija, gelegen, vermittelt das Hotel „Villa Orient“ arabischen Charme - in außerordentlich zentraler Lage. Die sehenswerte älteste Moschee, die Gazi-Husrevbeg-Moschee, liegt gleich um die Ecke. Am Morgen vom Muezzin-Gesang geweckt zu werden hat schon was.
Oprkanj 6, Tel.: +387/33/23 27 02, Fax: +387/33/44 10 44 105



Text erschienen in Spike ART QUARTERLY Nr. 3/2004
> Link:Spike Art Quarterly > Link:Wikipedia/Sarajevo-